Ob Abitur mit über dreißig, mit Kind oder mit problematischen Erfahrungen aus früheren Schulbesuchen im Hinterkopf – all das ist am Hannover-Kolleg, dem Gymnasium für Erwachsene, in Hannover-Döhren möglich. Am 27. Juni 2019 hielten hier fast 70 junge Erwachsene ihr Abiturzeugnis oder die Fachhochschulreife in den Händen – und damit den Türöffner für ganz neue berufliche Perspektiven. Rückblickend sind sich die Schülerinnen und Schüler einig, dass sie vom Kolleg viel mehr als Schulwissen und Abiturzeugnis mitnehmen.

Noch Jahre zuvor schien die Hochschulreife unerreichbar, teilweise gar nicht erstrebenswert. Bei manchen war das Abitur angesichts der Noten im 12. Jahrgang ein unrealistisches Ziel, bei anderen die Frustration im Schulalltag so groß, dass eine Ausbildung erst einmal attraktiver erschien. Und dennoch führte sie der Weg Jahre später noch einmal zurück auf die Schulbank

„Damals war ich in der Schule, weil ich in der Schule sein musste. Später habe ich mich bewusst entschieden, dass ich lernen und mich verbessern möchte”, berichtet die Abiturientin Mariama Cissé. „Die Persönlichkeitsentwicklung ist mit Mitte zwanzig eine andere als mit 15 oder 16. Alle wollen hier sein”, stimmt ihr Mitschüler Jonas Windrich zu.

Nach ganz unterschiedlichen Erfahrungen im Rahmen der Ausbildung oder des Berufslebens entwickelten das Lernen, die Auseinandersetzung mit neuen Fragestellungen, die Diskussionen in verschiedenen Fächern für viele plötzlich einen zuvor unbekannten Reiz. „Es hat mir Selbstvertrauen gegeben, dass ich jetzt gewisse Zusammenhänge verstehen und in Diskussionen plötzlich mitreden konnte”, berichtet Mariama Cissé.

Als Hauptunterschied des Schulalltags auf dem Zweiten Bildungsweg im Vergleich zum sogenannten regulären Gymnasium nennen die Abiturientinnen und Abiturienten einstimmig die „Begegnung auf Augenhöhe” mit den meisten Lehrkräften. Karen Manzke, ehemalige Schülersprecherin, betont die Bedeutung zusätzlicher Hilfsangebote der Schule, wie etwa des Mentorenprogramms, bei dem sich Lernende gegenseitig Nachhilfe geben, oder des Coaching-Programms, bei dem Lehrkräfte Schülerinnen und Schülern helfen, Lösungsstrategien für Lernprobleme zu entwickeln. „Es wird nachgebohrt. Das ist für einzelne zwar manchmal unangenehm, oft aber durchaus hilfreich. Wer um Hilfe bittet, der bekommt sie”, so Manzke.

Unterricht am Kolleg, das bedeutet mindestens von 8.30 Uhr bis 13.40 Uhr rund drei Fächer im Doppelstundentakt, aber auch Verpflichtungen am Nachmittag: Hausaufgaben, Klausurvorbereitungen, Referaten oder Präsentationen, mit dem damit je nach Fach und Neigung verbundenen Stresspegel. Nach Ansicht der Interviewten bietet der Oberstufenunterricht trotzdem immer wieder Freiräume, Interessen zu entwickeln, sich selbst zu finden. Gleichzeitig bedeute dies aber auch Verantwortung, diese Spielräume zu nutzen.

Dabei ist nicht immer das Lernen selbst ein Problem, sondern die Verbindung von schulischem und außerschulischem Leben. Fast alle wohnen nicht mehr zuhause, müssen auf praktische Unterstützung durch die Eltern verzichten, die eigene Wohnung bezahlen. Obwohl der Schulbesuch kostenlos ist, also keine Schulgebühren anfallen, wäre die Schulzeit für die meisten ohne das elternunabhängige BafÖG nicht finanzierbar gewesen. Darüber hinaus haben die meisten Schülerinnen und Schüler einen Nebenjob. „Die Kombination von Arbeit und Schule fordert jedem den Willen ab, den man braucht, um das Abitur zu bestehen”, meint Jonas Windrich. Gerade in den Klausurenphasen können sich die wenigsten auf die Schule allein konzentrieren. „Manchmal kommt dann das normale Leben dazwischen – Haushalt, Einkäufe, Organisatorisches etc.”, sagt Karen Manzke. Und bei aller Bewunderung für den Entschluss, freiwillig wieder zur Schule zu gehen, haben nicht alle Freunde und Bekannte Verständnis für die knappe Freizeit, denn es sei vermeintlich ja „nur Schule”.

Durchhalten, durchhalten, durchhalten, haben sich nicht nur die gesagt, die mit Kind, Baby oder Nebenjob das Zentralabitur gemeistert haben. Rückblickend raten sie ihren Mitschülerinnen und Mitschülern der unteren Jahrgänge, auf dem Weg zum Abi immer einzelne Etappen im Blick zu haben, sich über Zwischenerfolge zu freuen und an das zu denken, was jede(r) einzelne bereits erreicht hat. Auf der Zielgeraden erscheint den Abiturientinnen und Abiturienten das, was am Start nach einer Tour de Force aussah, trotz aller Anstrengungen und gelegentlicher Hürden, wie im Flug vergangen. Mariama Cissé, Karen Manzke und Jonas Windrich würden ihre Entscheidung für das Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg immer wieder treffen. Für Mariama Cissé ist das Fazit nach drei Schuljahren klar: „Wer mit seiner Situation unzufrieden ist, sollte den Mut haben, sie zu ändern. Es ist nie zu spät, noch einmal etwas Neues zu starten. Keine Sorge, es ist nicht schlimm, wenn man beim Abi schon über 20 oder 30 ist.”

(Scr, 30.6.2019)