Sie haben es geschafft. Endlich. Und einige fragen sich, ob der Moment wirklich wahr ist, als sie das Abiturzeugnis oder die FH-Reife in den Händen halten. 35 Absolvent*innen nehmen Ende Juni ihre Abschlusszeugnisse an den Gymnasien für Erwachsene entgegen – und damit den Türöffner für neue berufliche Perspektiven. Die Klausuren im Zentralabitur waren identisch mit denen anderer niedersächsischer Gymnasien, die Lernbedingungen und Motive für den Schulbesuch jedoch keineswegs.

„Ich werde mir und allen zeigen, was ich kann“, war der Leitspruch von Danijela am Abendgymnasium. Als erste in ihrer Familie macht sie Abitur – „mit Ü 30“. Ihr Mitabsolvent Lukas am Hannover Kolleg hätte sich nie träumen lassen, dass er als ehemaliger Hauptschüler einen Abi-Schnitt mit einer Eins vor dem Komma erreichen würde, wie insgesamt 6 Abiturient*innen der Gymnasien für Erwachsene.

Die Unterschiede zwischen Abitur, Wissen und Bildung

„Abitur leitet sich ab von abiturus, vom lateinischen Verb abire, weggehen. Der Abiturus ist die Person, die weggehen wird“, erklärt Schulleiter Udo Menski bei der Verabschiedung. Ob das Abitur mit Bildung gleichzusetzen sei? Der reglementierte Fächerkanon sicher nicht. Im Idealfall aber hätten alle Absolvent*innen in den vergangenen zwei oder drei Schuljahren gelernt, ihr neu gewonnenes Wissen einzuordnen, mit ihm Zusammenhänge zu erschließen und daraus Erkenntnisse abzuleiten. Fähigkeiten, die ganz unabhängig von der Branche im Berufsleben, aber nicht nur dort wichtig sind.

Wissen pur zu beschaffen sei heutzutage einfach, erst recht in Zeiten der KI. Aber aus dem Wissen individuelle Selbstbestimmungsfähigkeit, Mitbestimmungsfähigkeit und Solidaritätsfähigkeit zu entwickeln, das könne eine KI nicht übernehmen, betont Menski.

Mathe wird plötzlich Lieblingsfach – wenn auch nicht bei allen

Die Absolvent*innen der Gymnasien für Erwachsene sind im Durchschnitt 27 Jahre. Keinesfalls zu alt, um noch einmal über den persönlichen Berufsweg nachzudenken Mit dem Abschlusszeugnis öffnen sich nun neue Perspektiven: z.B. Richtung Grundschullehramt, soziale Arbeit, Maschinenbau, Psychologie oder Umweltwissenschaften. Warum sie diesen Schritt erst jetzt gingen? Bei einigen war die Hochschulreife vor Jahren noch kein realistisches Ziel, bei anderen die Frustration im Schulalltag so groß, dass eine Ausbildung attraktiver erschien. Und teilweise stimmten die persönlichen Rahmenbedingungen einfach nicht. Immer noch hängt in Deutschland der Bildungsgrad stark von der sozialen Herkunft ab.

Viele, die früher Probleme mit Hausaufgaben und Motivation für den Lernstoff hatten, änderten ihre Einstellung grundlegend. Nach den Erfahrungen in Ausbildung oder Beruf ging vom Lernen ein zuvor unbekannter Reiz aus. Lukas berichtet: „Als Teenager habe ich Mathe gehasst, am Kolleg wurde es mein Lieblingsfach.“

Hürden nehmen und an sich glauben

Dabei ist nicht immer das Lernen selbst ein Problem, sondern die Verbindung von Schule und Alltag. „Der Zweite Bildungsweg bringt oft mehr Hürden mit sich, etwa durch zusätzliche Verpflichtungen wie Haushalt, Termine oder private Angelegenheiten“; erinnert sich Samira. „Es gab Zeiten, in denen mir alles zu viel wurde. Der Druck, die wenige Freizeit, der volle geplante Tag – morgens arbeiten, abends Schule“,“ sagt Schülersprecher Alexander vom Abendgymnasium.

Durchhalten, durchhalten, durchhalten haben sich nicht nur die gesagt, die mit Job, Kindern und Familie das Zentralabitur gemeistert haben. Rückblickend raten alle, auf dem dorthin immer einzelne Etappen im Blick zu haben, sich über Zwischenerfolge zu freuen und an das zu denken, was man bereits erreicht habe.

Karina vom Hannover Kolleg macht jungen Erwachsenen Mut, noch einmal neue Horizonte zu entdecken, neue Erfahrungen zu sammeln. Auch Christoph vom Abendgymnasium ist stolz auf seine Fachhochschulreife. Er sagt nach zwei intensiven Jahren: „Ich werde die Zeit immer als eine positive Herausforderung in Erinnerung behalten, die mich auf jeden Fall weitergebracht hat.“ Er betont, es sei nie zu spät für einen höheren Schulabschluss. Man müsse nur an sich glauben. Das gilt für alle, aber die Mütter im Abschlussjahrgang 2025 bekamen von ihren Kindern einen besonders begeisterten Applaus.

(Scr, 29.06.2025)